Wirf Deine Gesangstechnik auch mal über Bord
Dient Dir Deine Gesangstechnik oder gibst Du Dir eher Mühe, Deiner Technik zu dienen?
In Zeiten, in denen Du nicht mehr voran kommst, bestimmte Dinge einfach nicht klappen wollen oder Dir schlichtweg irgendwo auf Deinem Weg der Spaß abhanden gekommen ist steckt des Rätsels Lösung manchmal hinter der Antwort auf genau diese Frage.
Gesangstechnik ist dazu da, Dir zu dienen. Das und nichts anderes! Sie soll Dir das Singen leichter machen, Dir neue Möglichkeiten eröffnen und Dir Sicherheit darin geben, eine gewisse Leistung zuverlässig abrufen zu können. Trotzdem drehen wir Sänger den Spieß manchmal selbst unbewusst um und machen uns - ohne es zu merken - in braver Pflichterfüllung zum Gefangenen genau der Regeln, die uns eigentlich mehr Freiheit schenken sollten. Das katapultiert uns häufig über unser Ziel hinaus und damit direkt auf der anderen Seite wieder vom Pferd herunter oder in Sackgassen hinein, in denen wir dann wie der Ochs vorm Berg stehen und trotz aller Mühe nicht mehr weiter kommen.
Wenn Du vielleicht ursprünglich mal an Deiner Brillianz arbeiten musstest, inzwischen aber so klingst, als würdest Du durch eine Blechdose singen, kennst Du das. Oder wenn Du vielleicht mehr „Rock“ in Deiner Stimme haben wolltest und Dich inzwischen zwar akzentfrei mit Hirschen unterhalten kannst, das Publikum aber regelmäßig dann doch lieber den Saal verlässt. In solchen und ähnlichen Fällen darf man sich schon zurecht fragen, ob man sich tatsächlich noch als Gewinner fühlen kann oder nicht doch eher zu einem Opfer seiner eigenen technischen Arbeit wurde.
Ebenso wenn Du schon seit langem konsequent an einem bestimmten Thema übst, aber einfach nicht mehr voran kommst. Möglicherweise sogar das Gefühl hast, dass alles eher immer schwerer wird und vielleicht auch noch Unannehmlichkeiten wie Heiserkeit und ähnliches auftreten. Dann hast Du beim Üben vermutlich eine Blockade aufgebaut oder führst eine technische Anweisung zu extrem aus, löst damit eine Reihe von negativen Seiteneffekten aus und kehrst den positiven Effekt direkt wieder um.
Egal ob Blockaden Deinen Weg zieren, Du etwas nicht mit dem nötigen Fingerspitzengefühl einsetzt oder vielleicht sogar eigentlich richtig übst, im Eifer aber über Dein Ziel hinaus gerannt bist. Manchmal hilft es, den Fuß vom Gas zu nehmen und Technik einfach mal Technik sein zu lassen. Möglicherweise sogar das aktuell bearbeitete, technische Mittel oder wenn nötig auch gleich jegliche bewusst eingesetzte Technik vorerst komplett von Bord zu werfen. Auch dann, wenn die aktuelle Baustelle für Dich prinzipiell richtig und womöglich sogar wichtig wäre.
Geh nach Deinem Gefühl. Wenn Du den Eindruck hast, dass Dir etwas nicht hilft oder Dich sogar bremst obwohl Du bereits länger daran feilst und es nach bestem Wissen und Können ausführst, dann teste, ob es ohne den neuen Kniff wieder besser vorangeht. Manchmal hat man eben momentan nicht das nötige Fingerspitzengefühl oder findet schlichtweg keinen Zugang zu einem Thema. Dann vertage es besser auf einen späteren Zeitpunkt, als Dich ewig damit zu quälen. Alles, was Dir nicht hilft, ist für den Moment gesehen nur Ballast. Egal wie richtig und wichtig es sein mag. Also erst mal weg damit!
Dass ich nicht falsch verstanden werde: Das soll bitte nicht als Plädoyer dafür verstanden werden, alles gleich wieder hinzuwerfen, was nicht sofort klappt!
Es ist vollkommen normal, dass neue Bausteine in Deiner Gesangstechnik immer zuerst einmal ungewohnt sind und häufig auch erst für Schwierigkeiten und Schwankungen sorgen. Es dauert normalerweise auch eine ganze Weile, bis sich das wieder komplett einpendelt. Wenn Du bereits in diesem Stadium aussteigst, wird natürlich nie allzu viel mit Deiner Stimme voran gehen. Wovon ich hier rede sind tatsächlich Blockaden oder langfristige, negative Auswirkungen.
Übe gewissenhaft! Wenn etwas nicht funktioniert auch hartnäckig! Nur sei dabei aufmerksam genug, zu merken, wenn Du in eine Sackgasse gerannt bist oder immer noch auf einem Weg weiter rennst, auf dem Du vor langem bereits am Ziel warst und Dich inzwischen nur in der anderen Richtung wieder immer weiter davon entfernst.
Streich das Bild aus Deinem Kopf, dass Du wie ein Roboter einfach nur einen fest definierten Satz Regeln abarbeiten musst und damit Dein Ziel erreichst. Mit diesem Gedanken wirst Du nur schnell zu einem Gefangenen Deiner eigenen Technik und führst Anweisungen aus, die Dir so, wie Du sie im Moment ausführst, nicht nur nichts bringen, sondern Dich womöglich sogar noch ausbremsen. Sei offen für Neues und überprüfe von Zeit zu Zeit, ob Dir die Dinge, die Du tust, wirklich dienen und Dir ein optimales Ergebnis liefern. Auf diese Weise kommst Du stetig weiter voran, egal wie viele Sackgassen Du auf Deinem Weg mitnimmst. Denn sowohl in Sackgassen zu landen, als auch auf der anderen Seite wieder vom Pferd zu fallen sind vollkommen normale Begleiter auf Deinem Weg nach vorn.
Daniel Imhoff
Vocal Coach & Sänger