Druckvoller Gesang ganz ohne Druck - geht das denn überhaupt?!
Für viele ist das ohne jeden Zweifel eine vollkommen paradoxe Vorstellung. Druckvoller Gesang, ganz ohne Druck. Die Bezeichnung "druckvoll" scheint schließlich bereits eine vollkommen eindeutige und selbstredende Aussage zu der Frage zu treffen. Trotzdem ist die kurze Antwort "ja, das geht". Tatsächlich geht es sogar eigentlich nur ohne Druck. Aber wie soll das denn möglich sein?
Die Quelle der Verwirrung liegt hauptsächlich darin, dass unglücklicher Weise der selbe Begriff für zwei vollkommen verschiedene Dinge verwendet wird, die tatsächlich nicht zusammen gehören und vor allem schon ganz und gar nicht gleichbedeutend sind. Wer das nicht trennt, zieht automatisch falsche Rückschlüsse, die dabei aber vollkommen logisch erscheinen. Es geht - wie zu erwarten war - um den Begriff "Druck" bzw. "druckvoll". Fast gleichbedeutend könnten wir "Kraft" und "kraftvoll" o.ä. verwenden. Ich werde der Einfachheit halber beim Begriff "Druck" bleiben, der im Endeffekt auch das größte Ausmaß kontraproduktiver Auswirkungen entfaltet.
Wenn der Begriff "druckvoll" als Beschreibung für einen Ton verwendet wird, schließen die meisten automatisch darauf, dass ein druckvollerer Ton durch Erhöhung des Luftdrucks zu erreichen ist. Klingt ja auch selbstverständlich. Tatsächlich steht "druckvoll" in diesem Zusammenhang aber rein für die akustische Wirkung des Tones. Diese akustische Wirkung entsteht jedoch nicht durch Luftdruck, sondern wird ausschließlich durch die Zusammensetzung der Teilschwingungen (Obertöne) bestimmt, aus denen der jeweilige Ton besteht und welche dieser Teilschwingungen einen dominanteren Anteil im Gesamtklangbild einnehmen.
Wie druckvoll ein Ton wirkt hängt also davon ab, was für Schwingungen Du grundlegend überhaupt erzeugst und wie stark Du die einzelnen Schwingungen jeweils über Deine Resonanzräume verstärkst - sprich welche Resonanz Du dem Ton zur Verfügung stellst. Das hat nichts mit dem verwendeten Luftdruck zu tun. Ganz im Gegenteil! Ein zu hoher Luftdruck hindert Deine Stimmlippen sogar daran, frei zu schwingen und raubt Deinem Ton dadurch Schwingungsanteile, die aufgrund einer verkrampften Haltung gar nicht erst entstehen können. Oder es wird ein überschüssiger Luftstrom in den Ton gemischt, der den Klang verwässert und dadruch schwächer wirken lässt. Zu großer Luftdruck verhindert also grundsätzlich sogar, dass Dein Ton wirklich druckvoll klingen kann.
Die wichtige Erkenntnis ist also, dass Drucksteigerung im Klang nicht gleich Steigerung des verwendeten Luftdrucks ist und umgekehrt genauso wenig! Du würdest auch nicht auf die Idee kommen, einen Föhn vor eine Gitarre zu halten, um durch die zusätzliche Luftbewegung den Ton der Gitarre druckvoller zu machen. Genauso wird ein Ton, den eine Gitarre erzeugt, auch nicht druckvoller, wenn Du wie ein Wahnsinniger auf die Saiten einschlägst. Es scheppert dann nur gewaltig und die Töne werden alle im Ansatz zu hoch, weil die Saiten durch die Belastung überspannt werden und nicht mehr die gewünschte Schwingung erzeugen können. Eine ähnliche Vorstellung kannst Du für den Zusammenhang zwischen Druckerhöhung und der Reaktion Deiner Stimme ansetzen.
Möchtest Du also einen druckvolleren, wuchtigeren, kräftigeren oder sonst irgendwie "stärkeren" Ton, dann lass Dich nicht von dem Begriff, der rein bildlich zur Beschreibung des Tons verwendet wird, auf eine falsche Fährte locken. Mach Dich lieber auf die Suche nach den richtigen Obertönen, die die gewünschte Klangwirkung erzeugen, statt zu versuchen, zu drücken und zu hebeln, bis du knallrot anläufst und dir der Kehlkopf fast aus dem Hals springt. Denn letzteres bringt Dir leider rein gar nichts, außer massiver Überanstrengung. Wobei es eigentlich eher zum Glück rein gar nichts bringt. Wäre es nicht schlimm, wenn man wirklich seine Stimme exzessiv überanstrengen müsste, um eine Chance auf den gewünschten Klang zu haben?
In diesem Sinne wünsche ich Euch viel Spaß beim Abrocken und mit diesem Wissen auf Dauer hoffentlich weniger Schmerz und Überanstrengung dabei!
Haut rein! Aber hört auf, zu drücken. ;-)
Daniel Imhoff
Vocal Coach & Sänger