Lässig statt stressig - von Lockerheit und eiserner Disziplin

Lässig statt stressigWie übst Du? Mit eiserner Disziplin? Eher nur hin und wieder mal? Oder vielleicht auch einfach gar nicht?

In den meisten Köpfen gibt es nur genau eine einzige Option, in welcher Form es Sinn macht, zu üben. Nämlich "diszipliniert". Als Alternativoption dazu existiert in der Regel ebenfalls nur eine einzige Möglichkeit. Und das wäre dann "gar nicht". Kennst Du das?

Irgend jemand kam einmal auf die prima Idee, den Leitsatz einführen zu müssen, dass man das, was man tut, entweder diszipliniert durchzieht oder es auch einfach gleich lassen kann. Und so hängt das heute in unseren Köpfen. In Folge dessen gibt es viel Frust, Ärger und Hilflosigkeit und eine Heerschar an Menschen, die lieber darauf verzichten, sich in etwas zu verbessern, was sie eigentlich sehr gerne und aus Leidenschaft tun und in dem sie auch gerne besser werden würden, weil sie Angst haben, ihre Leidenschaft und Freude zu verlieren, da Üben schließlich nur mit strenger Disziplin Sinn macht.

Reine, eiserne Disziplin ist aber nicht immer der Weg, auf dem tatsächliches Wachstum entsteht! Vor allem dann nicht, wenn es darum geht, sich etwas Neues anzueignen.

Daher möchte ich zwischen die beiden scheinbar einzig verbreiteten Übungs-Philosophien "diszipliniert" und "gar nicht" gerne eine dritte Option ins Rampenlicht stellen. Eine Option, die ich selbst mit weitem Abstand als meine erste Wahl heranziehe und die ich für gewöhnlich auch zu aller erst empfehle. Nämlich "spielerisches Probieren".

Mit eiserner Disziplin zu üben hat öfter einen ähnlichen Effekt, wie wenn Du täglich für eine festgelegte Zeitspanne an einer Pflanze zupfst, um sie zu schnellerem Wachstum anzuregen. Das kann man zwar schon machen. Die Pflanze wird auch wachsen – sofern das Gezupfe sie nicht zu sehr aus der Bahn wirft. Dein gesamter Aufwand ist bei diesem Ansatz im Prinzip aber Schall und Rauch. Denn all das Gezupfe beschleunigt letztlich rein gar nichts. Außer vielleicht das Tempo, in dem Dein Interesse an dieser scheinbar so widerspenstigen und überaus anspruchsvollen Pflanze rapide schwindet und schwindet. In Deinem Frust über dieses widerspenstige Ding wirst Du vermutlich sogar kaum mehr wahrnehmen, dass die Pflanze eigentlich schon langsam gewachsen ist.
Das kennst Du eventuell genau so vom Training Deiner Stimme. Du nimmst Dir vor, einen definierten Übungsblock in fester Regelmäßigkeit abzuackern. Schon sehr bald nachdem Du diesen Weg beschritten hast nagt jedoch bereits der Eindruck an Dir, dass sich nicht viel bewegt, obwohl Du so viel investierst. Selbst wenn Du Dich sehr bemühst, exakt das zu tun, was Dir als Übung nahe gelegt wurde, passiert zu Beginn erst einmal irgendwie kaum etwas. Zumindest im Vergleich mit dem gefühlt enorm großen Einsatz, den Du erbringen musst. Das erzeugt weder Spaß noch sonderlich viel Motivation für die nächste Übungssession. Und das, wo wir alle sicher genügend anderes zu tun hätten, bei dem unser Aufwand offensichtlich mehr Früchte zu tragen scheint. Damit reiben sich viele so lange auf, bis sie entweder nach gefühlt übermenschlichem Einsatz tatsächlich endlich eine Verbesserung bemerken oder - wie so oft - vorher doch dem inneren Schweinehund nachgeben und die geplante Übungszeit kurzer Hand mit offensichtlich sinnvolleren Dingen füllen. Womit wir die Brücke zur Alternativoption "gar nicht" geschlagen hätten.

Die Pflanze völlig ihrem eigenen Schicksal zu überlassen - um bei dem Bild von oben zu bleiben - und sie unberührt und unbeachtet in der Ecke stehen zu lassen ist aber vielleicht auch nicht unbedingt das effektivste Programm zur Wachstumsförderung. Ich glaube wir müssen hier nicht genauer erörtern, dass mit diesem Ansatz auch nur sehr begrenzte Zeit noch etwas verzweifelt vor sich hin wachsen wird, bis schlussendlich dann nur noch ein kleiner, vertrockneter Überrest anzutreffen sein wird.
Überhaupt nichts tun kann zwar in Form einer kreativen Pause von Zeit zu Zeit ein wahrer Segen sein. Als permanente Lösung führt das aber natürlich auch nicht unbedingt zur Beschleunigung von Fortschritten. Und am Beispiel der Pflanze kann man vielleicht erahnen, dass es womöglich doch auch noch eine Lösung zwischen den beiden beschriebenen Szenarien geben könnte.

Du kannst die Pflanze zum Beispiel einfach aufmerksam in ihrem Wachstum beobachten und sie so pflegen, wie sie sich Deiner Beobachtung nach am besten entfaltet. Das bringt sicher schonmal keine schlechteren Ergebnisse, als die regelmäßige Behandlung des disziplinierten Zupfers von oben. Du gewinnst dabei aber automatisch viel mehr Erkenntnisse über die Pflanze an sich und obendrein machst Du mehr positive Erfahrungen, die Spaß und Motivation mit sich bringen. Ganz abgesehen davon, dass Du Dir einen Haufen nervenzehrenden Aufwand sparen kannst, der sich am Ende ja doch eigentlich nur in Reibungswärme auflöst.
Das wäre der Übungsansatz des "spielerischen Probierens", bei dem Du locker und ungezwungen ausprobierst und beobachtest was passiert. Egal ob vielleicht auch mal Mist dabei heraus kommt. Oder eigentlich sogar genau das in Kauf nehmend. Denn wenn Du weißt, was nicht zum gewünschten Effekt führt, hast Du auch mehr Klarheit darüber gewonnen, wie Deine Stimme gut funktioniert und was sie zu Fall bringt.

Wenn Du etwas Neues erlernen möchtest, bringt Dir spielerisches Herumstochern viel mehr, um die Grenzen und das passende Körpergefühl auszuloten, als stures, diszipliniertes Üben. Letzteres bringt Dich oft nicht sonderlich gut voran, verhindert aber häufig generelle Erfahrungen. Du versuchst dabei ja schließlich verzwungen, alles genau richtig zu machen und verwirfst für gewöhnlich auch direkt jedes Ergebnis, das nicht dem Ziel entspricht, statt alle Ergebnisse - egal wie gut oder grauenvoll - neugierig zu beleuchten und etwas daraus zu lernen.
Mit spielerischem Probieren musst Du Dich nicht mehr so sehr zum Üben zwingen, sondern entwickelst Spaß am (ungezwungenen) Üben selbst. Du musst auch nicht unbedingt festen Zeiten oder Abläufe einhalten und bist nicht von Übungsmaterial oder Hilfsmitteln abhängig. Denn neugieriges Stochern geht auch ohne Klavierbegleitung. Meistens übt man mit diesem Ansatz sogar im Endeffekt viel mehr, als wenn man sich diszipliniert feste Zeitspannen vornimmt. Denn von etwas, das Spaß macht und gleichzeitig fast wie von allein immer mehr Fortschritt mit sich bringt, kann man nur schlecht die Finger lassen.

Ich möchte Dich hier ermutigen, dieses Prinzip einmal auszuprobieren. Wenn Du an Deine Ziele locker heran gehst, in kleinen, ungezwungenen Häppchen lernst und nicht verbissen versuchst, es richtig zu machen, sondern Dir zum Ziel setzt, zu entdecken, was so alles passiert, wenn Du vor Dich hin stocherst und vielleicht das ein oder andere Mal auch einfach nur Quatsch machst, wirst Du mit großer Leichtigkeit Fähigkeiten erlangen, die Du mit eiserner Disziplin nur mit großem Aufwand erreichst. Obendrein wirst Du viel mehr über Deine Stimme erfahren und damit viel effektiver und sinnvoller mit ihr umgehen können. Denn wenn Du auch den Bereich ausgelotet hast, der den gesuchten Wege umgibt, findest Du leichter wieder auf diesen Weg zurück, wenn es Dich an einem schlechten Tag mal mit Karacho in den Grünstreifen semmelt und stehst nicht ahnungslos auf Deine Füße starrend da und kannst nur fest stellen, dass das unter Deinen Füßen ja gar nicht mehr der Weg ist, den Du Dir so hart erkämpft hast.

In diesem Sinne wünsche ich Dir viele interessante Erkenntnisse über Deine Stimme und immer genug Neugierde und Humor, um Deinen Fortschritt mit Freude und Motivation zu begleiten! Viel Spaß beim Rumstochern! Und sei dabei bitte nicht zu ernst. Das macht die Ergebnisse nicht wirklich besser, sondern viel eher einfach nur den Aufwand größer.

 

Daniel Imhoff

Vocal Coach & Sänger

 

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